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Erlösung aus tiefster Not

Erlösung aus tiefster Not

Erlösung aus tiefster Not

Lesen hier die Werkeinführung zur Johannes-Passion von Laura Thomsen aus unserem Programmheft zum Konzert. Eine digitale Version des gesamten Programms finden Sie hier.

Nahezu lebendig offenbart sich die tragische Geschichte um Jesu Kreuzigung, wenn in höchst polyphoner Musik die atemberaubenden Passionen von Johann Sebastian Bach (1685–1750) ein musikalisches Abbild der historischen Begebenheiten aufzeigen. Der Symphonische Chor Hamburg freut sich sehr, in diesem Jahr kurz vor Ostern die Johannes-Passion aufzuführen und die dramatische Erzählung um die Kreuzigung Jesu selbst zu interpretieren. Einst für die Andacht am Karfreitag komponiert, haben Bachs Werke seit der Wiederentdeckung durch Felix Mendelssohn-Bartholdy schon lange ihren Weg in den Konzertsaal gefunden, wo der liturgische Rahmen durch die gemeinsame kontemplative Erfahrung ersetzt wird. Intensives Gemeinschaftsgefühl und unendlicher Trost verbinden sich zu einer tief empfundenen Anteilnahme gegenüber der unmenschlichen Geschichte. Genießen Sie die musikalische Pracht, in die Bach dieses unerbittliche Drama hüllte, und erleben Sie die tragische Dramatik der letzten Tage Jesu in feierlicher Spannung.

Die Komposition der Johannes-Passion ist stark mit der Lebenssituation verknüpft, in der Johann Sebastian Bach sich derzeit befand. Sein Amt als Leipziger Thomaskantor ist eng mit der Komposition seiner zahlreichen Kantaten und großartigen Passionen verbunden. Hier war er verpflichtet, neben dem Unterricht die Musik für die Gottesdienste und Andachten in der Stadt bereitzustellen. 1723, Bach ging bald auf das 40. Lebensjahr zu, wurde er als Thomaskantor berufen. Bereits zum nächsten Osterfest im März 1724 erlebte die Johannes-Passion ihre Uraufführung. Dass seine Wahl auf dieses Evangelium fiel, lässt sich auf die althergebrachte Tradition zurückfuhren, den Text des Johannesevangeliums als letztes der vier Evangelien vor Ostern am Karfreitag zu verlesen. Inhaltlich manifestiert sich in diesem Evangelium eine antizipierende Verherrlichung, die nicht das Leiden am Kreuze in den Mittelpunkt stellt, sondern den kommenden Sieg am Ostermorgen vorhersieht. Dieser positiven Lesart widmete Bach sich allerdings nicht nur 1724. Bereits 1725 und 1732 folgten weitere Fassungen. Kurz vor seinem Tod schuf er 1749 eine vierte und letzte, die in großen Teilen zur ersten Version zurückkehrte und bis heute meist musiziert wird. Lange Zeit stand die Johannes-Passion im Schatten der großen Matthäus-Passion, die nicht nur in Dauer umfänglicher, sondern auch in ihrer betrachtenden Grundhaltung beliebter war.

Während die Matthäus-Passion das Geschehen meditativ betrachtet, ist die Johannes-Passion kraftvoll und mitreißend erzählt und besticht durch ihre relative Kurzweiligkeit. Das 18. und 19. Kapitel des Evangeliums nach Johannes legen die textliche Basis, der Bach einige Verse des Matthäusevangeliums beifügte, um noch mehr Spannung zu erzeugen. Die betrachtenden und reflektierenden Arien unterliegen vermutlich der seinerzeit beliebten Textgrundlage »Der für die Sunden der Welt gemarterte und sterbende Jesu« des Hamburger Ratsherrn Heinrich Brockes, während seinerzeit allgemein bekannte Chorale mit Neutextierungen und melodischen Veränderungen den textlichen Zusammenhang abrunden. Der gestraffte, ergreifende Text wird in der Johannes-Passion starker vom Chor präsentiert, der nicht nur in den kontemplativen Chorälen als andächtige Gläubige, sondern besonders in den handelnden Turba-Chören als hetzende, wütende Volksmenge durch Dramatik besticht. Resultierend aus dieser ausgewogenen Verteilung auf Solisten und Chor herrscht ein steter Perspektivwechsel, der die Handlung noch stärker vorantreibt. Plastisch und mitfühlend werden die Rezitative vom Evangelisten wiedergegeben, der nicht nur die biblische Geschichte anschaulich verbreitet, sondern durch das Werk leitet und den sprechenden Personen das Wort erteilt. In den Arien betrachten die Solisten reflektierend und mitfühlend die Geschehnisse und leiten den Zuhörer noch tiefer in die emotionale Dramatik der Passion, deren Handlung von der facettenreichen Diversität der Passagen lebt. Existenzielle Themen werden kunstvoll miteinander verwoben, sodass Angst, Verrat und Verzweiflung neben Reue und Gottvertrauen wirken und einen eigenen, mitreißenden Kosmos entstehen lassen, der alle Zeiten überdauert. Der leidvolle Weg Jesu vom Verrat bis zum Tod am Kreuze wird in emotionaler Musik begleitet, die seinerzeit in der Kirche kaum bekannt war und uns heute einen reflektierten Menschen zeigt. Auch in dieser Darstellung hebt sich die Johannes-Passion ab, denn sie zeigt einen Helden, der nicht vor dem Tod zurückweichen wird, um sein Schicksal zu erfüllen. Nicht ohne Grund liegt die Kulmination auf seinen Worten »Es ist vollbracht« und deren Vertonung. Die Auferstehung wird im Angesicht des Todes antizipiert und schwingt andächtig über der Handlung wie ein gutes Omen. Der allumfassende kompositorische Rahmen präzisiert dies, wenn die letzte Zeile des Schlusschorals »Ich will dich preisen ewiglich« den Lobgesang des Eingangschores aufgreift, um so Anfang und Ende in Preisung und Verherrlichung miteinander zu verbinden.

Den Duktus der Passion gibt bereits der Eingangschor vor, in dem die durch Alliteration noch verstärkte Anrufung »Herr, Herrscher, dessen Ruhm herrlich ist« die feierliche Fasson eröffnet. In schwebender, vorantreibender Motivik werden die energischen Läufe der Streicher und die sich verschlingenden Bläsertöne vom Chor aufgegriffen und eröffnen die Passion mit einem energiegeladenen und erregten Eingangschor. Ohne einen Rückgriff auf vorher Geschehenes führt der Evangelist in die Geschichte ein. Die heroische Haltung Jesu voll unendlicher Ruhe steht durchweg im starken Kontrast zu den Verrätern im Garten Gethsemane und der suchenden Menge im ersten hektischen Getümmel, die sich im Laufe der Handlung zu einem wütenden Tumult wandelt. Bereits hier zeigt sich, dass Bach den Menschen einen wesentlich größeren Platz in der Handlung einräumt und nicht die bloße Betrachtung des Geschehens zum Verständnis der Tragödie genügt. Viel Platz nimmt daher auch die Verleugnung des Petrus in den Bach’schen Passionen ein, die herzzerreißend geschildert wird. Kontrastreich zur naiven Folgschaft in der fast pastoralen Arie »Ich folge dir gleichfalls« steht seine Verzweiflung im bildhaft komponierten Weinen. Bach baut mit einem Kunstgriff den Text des Matthäusevangeliums ein, welche das Leugnen aufwühlend in Worte fasst, und beendet den ersten Teil der Passion zweifelnd und zagend.

Ein Choral, der die Prophezeiung resümiert, eröffnet den zweiten Teil der Passion, der im liturgischen Sinne nach der Predigt erklungen wäre. Musikalisch kraftvoll inszeniert, fordert das Volk in wilden Turba-Chören Jesu Tod vor dem Statthalter Pilatus.

Das Bewusstsein um das Ende seiner Aufgabe in der Welt zeigt sich in seinen Worten, dass er kein König in dieser Welt sei, als er bestätigt: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt … nun ist mein Reich von dannen.« Durch den ständigen Perspektivwechsel, den Bach als Stilmittel nutzt, wird die Dramatik im anschließenden Gemeindechoral »Ach, großer König« greifbar, denn der zuvor als wilde Volksmenge agierende Chor besingt nun in anderer Rolle, voller Dankbarkeit den König und Herrscher und hält einen kurzen Augenblick inne. Als die Volksmenge aber Barrabas freigibt, steigert sich diese in ihrer Rage, und Bach stellt die Worte des Solisten in Kontrast zur Vertonung der brutalen Geißelung. Durch das Leiden unter der Dornenkrone kann sich nun den Menschen der Himmel und damit ein neues Reich eröffnen. Die »Erwäge«-Arie des Tenors umkreist in poetischen Bildern die Erlösungsthematik, indem ausdrucksstark die Wasserwogen der Sintflut skizziert werden und der Regenbogen, der nach der „Verleugnung durch Petrus“, Fresken von Franz Joseph Spiegler, 1727, in der Pfarrkirche St. Peter (ehem. Klosterkirche St. Peter auf dem Schwarzwald) Katastrophe der Sintflut als Zeichen für Gottes Gnade steht, hervorgehoben wird, bevor sich die Johannes-Passion ihrem Höhepunkt nähert. Effektvoll werden das Leiden und Sterben am Kreuz auf Golgatha durch die entrüstete Menschenmenge geprägt, denen Bach dramatische und wirkungsvolle Passagen zudachte. Als aufgebrachtes Volk, das Jesus mit Dornenkrone und Purpurkleid spottend entgegentritt, werden sie durch die ziselierenden Flötentone zu Hohn und Spott aufgestachelt. In ihrer Wut enthemmt, rufen sie laut und durcheinander zur Kreuzigung auf und erzeugen eine dramatische Reaktion, die den Zuhörer ob der Heftigkeit erschrecken lässt. Stoisch, ja fast dogmatisch, beharren sie auf dem Gesetz, dass ihn, da er sich selbst Gott nannte, nun der Tod zu erwarten habe.

Inmitten all dieser wütenden und erbosten Forderungen vollzieht sich mit dem Choral »In meinem Herzensgrund« ein Stimmungswechsel und zwingt zur Reflexion. Die Bedeutung der Geschichte wird unterstrichen, dass nur durch dieses Opfer den Menschen die Freiheit gegeben wird. während bei Matthäus die Worte »Mein Gott, warum hast du mich verlassen« hochdramatisch erschrecken, zeigt sich bei Johannes, dass Jesus, nachdem er alle bedacht hat, mit den Worten »Es ist vollbracht« sein Schicksal annimmt und wohlbedacht seinen Weg antritt. Die die Thematik aufgreifende Alt-Arie ist ein starkes Zeugnis dafür, dass durch seine Handlung die Sünde besiegt wurde, und eröffnet klangvoll und mitreißend den Höhepunkt der Passion. Der Feierlichkeit des Anlasses widmet Bach gleich mehrere Arien und Chöre, die trotz allem Leid voller Verheißung die Auferstehung antizipieren. Nicht die Trauer beherrscht diese Musik, sondern eine trauernde Zuversicht auf das, was wenige Tage später geschehen wird. Die letzten Sätze schließen einen musikalischen Rahmen um die ergreifende Passion. Eine kraftvolle Preisung des Leibes Christi ist der Schlusschor »Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine«, der in seiner Emotionalität und Innerlichkeit nur vom letzten Choral übertroffen wird, wenn im »Ach, Herr, lass dein lieb Engelein« die Erlösung aller Seelen anmutig besungen wird und herrlich preisend auf den Anfang rekurriert.

Auch wenn die liturgische Thematik nicht immer in unseren Alltag passt, so hat Bachs Musik nie an Aktualität verloren. Die dramatische Vertonung der letzten Tage Jesu ergreift jeden, ob er nun an den Text glauben mag oder nicht. Der schreckliche Verrat der Menschen lässt niemanden in seiner Anteilnahme unberührt, und so ist es die einzigartige Kunst der Bach’schen Johannes-Passion, dass trotz aller Grausamkeit und allen Leidens die Auferstehung im Licht der Hoffnung vorausgegriffen wird und der schrecklichen Geschichte ein würdevoll klingendes Antlitz beschieden wird. Denn letztendlich ist dies die Erlösung für jeden und für immer wahr.

Laura Thomsen

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