Unsere Website verwendet ausschließlich technisch erforderliche Cookies. Es finden keine Besuchs-Analysen statt, und es werden keine sogenannten third-party-Cookies eingesetzt.

Auf keinen Fall Opernmusik!

Auf keinen Fall Opernmusik!

So verlangten es die Leipziger Honoratioren. Etwas im Stile Georg Philipp Telemanns schwebte den Herren vor: eingängig, keinesfalls so beunruhigend, dissonant und kompliziert wie Bachs Johannes-Passion, deren Uraufführung sie ein Jahr zuvor in Leipzig erlebt hatten.

Doch Bach war den Streit mit Ratsherren und Behörden gewohnt. Seine Musik war ihm wichtiger, und in der Leipziger Kaufmannschaft gab es genügend Unterstützer, die über Einfluss, Geist und Begeisterung verfügten.

So entstand ein Werk, über das Nikolaus Harnoncourt nur sagte, es gebe kein Wort dafür – höchstens „Vollkommenheit in allem“. Und sicher war es auch Johann Sebastian Bach bewusst, dass er hier etwas Großes geschaffen hatte. Er überarbeitete die Passion mehrfach und übertrug erst neun Jahre nach der Erstaufführung seine letzte Fassung in Reinschrift: Sie gilt als Bachs schönstes und sorgfältigstes Autograf.

Thomaskirche und Thomasschule in Leipzig, Stich 1735

Trotz dieser immensen Bedeutung, die Bach augenscheinlich seinem Werk zusprach, geriet die Matthäuspassion in Vergessenheit und wurde erst im Jahre 1829 durch Felix Mendelssohn Bartholdy wiederentdeckt. Gegen viele Widerstände und auf eigenes finanzielles Risiko passte er das Werk auf die Bedürfnisse des romantischen Zeitgeschmacks an. Es begann eine Bach-Renaissance, in der die Werke und die Person Bachs große Wertschätzung erfuhren und seine Musik wissenschaftlich erforscht wurde.

Obgleich die Matthäuspassion wohl das bedeutendste und gewaltigste Werk Johann Sebastian Bachs ist, war sie zu dessen Lebzeiten keineswegs erfolgreich: Nur drei- oder viermal wurde sie unter der Leitung des Komponisten aufgeführt. Sicher lag dies an der eingangs zitierten konservativen Haltung des Leipziger Klerus, derer sich Bach nur begrenzt erwehren konnte. Gleichzeitig erkennen wir, wie unbeugsam Bach an musikalischen Zielen festhielt und sogar durch spätere Änderungen nicht etwa die Dramatik reduzierte, sondern sogar steigerte.

Die bekannteste dieser Erweiterungen ist sicher der hinzugefügte Choral „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ (Nr. 29), der ursprünglich zur Johannes-Passion gehörte und nun den 1. Teil der Matthäus-Passion auf ungewohnt groß angelegte Weise abschließt. Damit zieht Bach einen Bogen zum großen Eingangschor „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“, in dem der Klagegesang beider Chöre und Orchester ergänzt wird durch einen Cantus firmus (im Autograf mit roter Tinte hervorgehoben) „O Lamm Gottes, unschuldig“. Dieser Choral wurde in der Thomaskirche von der zweiten Orgelempore aus gesungen, so dass die Musik die Kirchengemeinde in ihre Mitte nahm und emotional am Geschehen beteiligte.

Die Anlage des Werks mit zwei Chören und Orchestern, die häufig in einen Dialog miteinander treten, aber immer wieder unterschiedliche Rollen einnehmen, ist beeindruckend und vielschichtig. Auf der reinen Handlungsebene berichtet der Evangelist die Geschehnisse im Wortlaut der Bibel. Dabei unterstützen ihn die Solisten und Chöre in den Rollen von Pilatus, Petrus, Jüngern oder dem Volk. In den Arien und Chorälen unterbricht Bach die Nacherzählung. Hier wird das Passionsgeschehen auf einer allgemeineren Ebene reflektiert und an die Beteiligung des Einzelnen erinnert: Was bedeutet das Geschehen für mich? Welche menschlichen Eigenschaften werden hier geschildert? Wie ist es nur zu dieser Tragödie gekommen?

Eine zentrale Rolle spielt dabei der Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“, der mit verschiedenen Strophen und Harmonisierungen insgesamt fünf Mal erklingt und immer wieder an versteckten Stellen im Notentext zu finden ist.

Auch in vieler anderer Hinsicht ist das Werk voll versteckter Andeutungen Bachs, die nahezu unmöglich herauszuhören sind. Die Tonfolge B-A-C-H findet sich an vielen Stellen wie eine Signatur Bachs und natürlich die Zahl 14, die Summe der Positionswerte dieser Buchstaben im Alphabet. Sie findet sich immer dann, wenn der Komponist eine Aussage sich auch selbst persönlich zuschreibt, zum Beispiel im Chor „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“. Vielleicht gelingt es Ihnen jedoch die „Herr“ – Ausrufe im Chor „Herr – bin ich’s?“ zu zählen. Es geht hier ziemlich durcheinander, denn jeder Jünger fragt, ob er es sei, der Jesus verraten werde. Jeder? Nicht ganz. Judas fragt nicht. Also sind es genau elf Ausrufe.

Musikalisch bedeutender sind freilich die genialen kompositorischen Einfälle Bachs wie der mehrfach eingesetzte Verzicht auf den Basso continuo in Stücken, in denen der Musik quasi der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Dieser Ausdruck von Leid und Orientierungslosigkeit wird besonders eindrücklich in zwei Arien: Zum einen die berückend schöne Duett-Arie „So ist mein Jesus nun gefangen“ (Nr. 27a), von unseren Solistinnen Magedalene Harer und Wiebke Lehmkuhl gesungen, deren Dramaturgie noch gesteigert wird durch continuogestützte Choreinwürfe („Lasst ihn, haltet, bindet nicht!“). Zum anderen findet sich die „bodenlose“ Instrumentierung in der Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ (Nr. 49), die zudem äußerst zart nur von Traversflöte und zwei Oboen da caccia begleitet wird.

Der Kontrast zu den energischen Chören der Volksmenge (lat. Turba) könnte größer nicht sein. Direkt im Anschluss ertönen „Sind Blitze, sind Donner“ bzw. „Lass ihn kreuzigen!“ und wir können nur erahnen, wie die Kirchenbesucher damals von dieser Wirkung erfasst wurden. Der überlieferte Kommentar „Behüte Gott! Ist es doch, als ob man in einer Opéra-Comédie wäre!“ war sicher nicht als Kompliment gemeint.

Etwas filigraner, aber möglicherweise umso deutlicher ist die durchgängige Begleitung der Christusworte durch Streicherstimmen, die wie ein Heiligenschein die Stimme unseres Bass-Solisten Jonas Müller einbetten. Nur im letzten Satz Jesu „Eli, Eli, lama lama, asabthani?“ (Nr. 61a) schweigen die Streicher. Jesus wird den Menschen gleichgestellt, ein Sterblicher aus Fleisch und Blut mit der allzu menschlichen Frage „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“.

Heute wie damals ist es die Masse, die den Lauf der Geschichte lenkt. Bestehend aus Individuen, die sich entscheiden können. Entscheiden, ob sie auf eine erneute Tragödie zusteuern wollen oder sich auf die von Jesus vorgelebte Rückbesinnung zu Werten wie Demut, Barmherzigkeit und Nächstenliebe einlassen. Bach zeigt uns mit seiner Musik, dass wir selbst es sind, die inmitten dieser Kräfte stehen.

Schreibe einen Kommentar

Related Posts